John Tavener


     

    * 1944

    Seit der Uraufführung der Oper Thérèse (1973­76) gehört John Tavener zu den herausragendsten Komponisten Englands. Das ist um so erstaunlicher, weil er sich, was die Themen seines umfangreichsten Werkes betrifft, keineswegs an gängigen Inhalten der Moderne orientiert. Ihm geht es, in dieser Beziehung dem Franzosen Messiaen nicht unähnlich, um die Auseinandersetzung mit transzendent-religiösen Inhalten.

    Seit seiner Konversion zur russisch-orthodoxen Kirche im Jahre 1977 verstärkte sich sein innerer Widerstand gegen die sogenannte akademische Avantgarde, der er eine sterile ­ nach seiner Ansicht ­ von einem zu berechnenden Kompositionskalkül ausgehende Auseinandersetzung mit der Moderne vorwirft. Tavener geht es um mehr. Er versucht mit Hilfe der Musik die mystischen Tiefen auch des gegenwartsbezogenen Menschen zu erreichen. Deshalb ihr strenger, aber durchaus transzendentaler Charakter mit seinen Vorlieben für schlichte, auf Anhieb erfassbare Strukturen, seine zyklischen wiederkehrenden Formen, seine Versuche, das Göttliche im Menschen anzurühren und aus dem akustischen Schutt der Gegenwart zu heben.
     

    The protecting veil (Der schützende Schleier)

    Die Komposition Der schützende Schleier verdankt ihre Entstehung als Auftragswerk der BBC für die Promenadenkonzerte im Jahre 1989. Ausgangspunkt wie Hintergrund dieser Komposition für Cello solo und Streicher ist die Legende vom orthodoxen Fest des schützenden Schleiers der Mutter Gottes. Tavener schreibt dazu:

    In einer Zeit ernster Bedrohung der Griechen durch die Invasion der Sarazenen wurden Andreas, der ,heilige Narr', und sein Jünger Epiphanios während einer Nachtwache der Mutter Gottes ansichtig. Sie schwebte hoch über ihnen in der Luft, umgeben von einer Schar von Heiligen. Sie betete inbrünstig und breitete ihren Schleier als schützendes Dach über die Christen aus. Ermutigt durch diese Vision widerstanden die Griechen dem Überfall und trieben die Sarazenen zurück. Das Fest des schützenden Schleiers wird von der orthodoxen Kirche zur Feier dieses Ereignisses gemacht.

    In Taveners Komposition geht nun keineswegs darum, das äussere Geschehen dieser Erscheinung programmatisch nachzuzeichnen. Vielmehr handelt es sich, nach den Worten des Komponisten, um einen ,Versuch, eine lyrische Ikone in Klänge und nicht in Holz umzusetzen. Tavener setzt dabei das Cello als lyrische Gesangsstimme in der Rolle Mariens ein, wahrend das Orchester wie ein kosmischer Resonanzraum die Tiefendimensionen dieses akustisch-mystischen Ereignisses wiedergibt.

    Die acht fortlaufenden Themen der Komposition sind:
    1. Marias kosmische Schönheit
    2. Geburt Marias
    3. Die Verkündigung des Engels an Maria
    4. Die Menschwerdung Christi
    5 Marienklage am Fusse des Kreuzes (Cello solo, ohne Orchester)
    6. Die Auferstehung Christi
    7. Marias Tod
    8. Die kosmische Schönheit Marias

    Die Komposition endet mit einer musikalischen Beschwörung der Tränen der Mutter Gottes.
     

                                                                    Joseph Bättig